Würzburg (POW) Im Blick auf die medizinische Versorgung in Zukunft hat Judith Gerlach, bayerische Ministerin für Gesundheit, Pflege und Prävention (CSU), dafür geworben, mehr Sensibilität dafür zu entwickeln, dass das Gesundheitssystem nicht ausgenutzt werde. Nirgends besuche ein Patient so viele Fachärzte desselben Bereichs wie in Deutschland. „Dieses Ärzte-Hopping als Auswirkung der derzeitigen All-Inclusive-Mentalität kann und wird nicht mehr die Realität der kommenden Jahre sein“, sagte sie am Samstag, 5. Juli, bei einer Podiumsdiskussion. Diese war Teil der Kiliani-Vollversammlung des Diözesanrats der Katholiken im Bistum Würzburg im Würzburger Burkardushaus. Thema des Gesprächs waren die Sorge und Nöte der medizinischen und pflegerischen Versorgung in Unterfranken. Die Ministerin lobte bei der Gelegenheit die umfangreiche und gute Beratungsarbeit der Kirche. „Es ist wichtig, dass wir auch die pflegenden Angehörigen im Blick haben. Denn die sind oft platt und fertig.“
Die Würzburger Christliche Sozialethikerin Professorin Dr. Michelle Becka umriss das Thema zuvor mit einem Impulsvortrag. „Ich bin mir bewusst, dass das Thema sehr komplex ist. Es ist also ein wenig so, als wollte ich einen Schrank an die Wand nageln.“ Gesundheit und Gesundheitsversorgung seien Themen, die jeden Menschen existentiell betreffen. „Fragen wie: Bekomme ich einen Arzttermin? Ist die Behandlung gut? Werde ich ortsnah versorgt? bekommen daher schnell eine enorm politische Dimension.“ Das zweite Vatikanische Konzil mahne in seiner Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ unter anderem, den Blick für die Schwächsten der Gesellschaft nicht zu verlieren. Es gelte daher bei jeder Institution zu hinterfragen, ob diese dem ursprünglich beabsichtigten Zweck diene und der Mensch im Mittelpunkt stehe. Im deutschen Gesundheitssystem mit etwa 5,7 Millionen Beschäftigten und 500 Milliarden Umsatz pro Jahr gebe es zugleich eine Über-, Unter- und Fehlversorgung. Die Einführung von Fallpauschalen habe beispielsweise Anreize geschaffen, mit speziellen Behandlungen Geld zu verdienen. Zugleich habe der Rückzug der öffentlichen Hand bei vielen Kliniken zu einem Investitionsstau geführt. Becka kritisierte, dass eine staatliche Hochglanzbroschüre zum Gesundheitswesen aus dem Jahr 2022 zwar Subsidiarität und Solidarität als Prinzipien hochhalte. Zur Personalität, also zum einzelnen Menschen, seinen Bedürfnissen und seiner Not, finde sie darin hingegen nichts.
Verschiedene Aspekte des Themas griff das Podium bei der anschließenden Diskussion auf. Weder in der vollständigen Ökonomisierung des Gesundheitssystems wie in den USA noch in der kompletten Verstaatlichung wie in Großbritannien sah Diözesanratsvorsitzender Dr. Michael Wolf eine wirkliche Lösung. Zudem warnte er davor, in Künstlicher Intelligenz den Stein der Weisen für viele Probleme der Gesundheitsversorgung zu sehen. „Nicht jedes Problem ist ein Nagel, nur weil ich einen Hammer besitze.“ Professor Dr. Matthias Frosch, Dekan der medizinischen Fakultät Würzburg der Universität Würzburg, nannte es bedenklich, dass mehr als ein Drittel der Bevölkerung laut Umfragen sich nicht mehr gerecht medizinisch versorgt fühle. „Das ist eine echte Gefahr für unsere Demokratie.“ Er hieß die Akademisierung der Pflege willkommen. Das bedeute, dass dadurch das Pflegepersonal auch für Aufgaben qualifiziert werde, die bislang nur Medizinern vorbehalten seien.
Landtagsabgeordnete Dr. Andrea Behr (CSU) sprach vom Aufeinandertreffen von demographischem Wandel, also zum einen mehr älteren und pflegebedürftigen Menschen einerseits, und dem gleichzeitigen Mangel an Fachpersonal. Dadurch werde auch im Bereich der Medizin die Versorgung beispielsweise auf dem Land schwerer. „Der Mut zur jüngsten Krankenhausreform war nötig“, erklärte ihre Kollegin Kerstin Celina (Die Grünen). Viele Krankenhäuser seien beim alten System der reinen Abrechnung nach Fallpauschale an ihre Leistungsgrenze gekommen. Auf die enorme Komplexität der Thematik verwies Landtagsabgeordneter Volkmar Halbleib (SPD). Es gebe vielfältige Aspekte, unter denen darüber diskutiert werden könne, beispielsweise die Frage der Gerechtigkeit oder das Verhältnis von Solidarität und Eigenverantwortung. 80 Prozent der Pflegebedürftigen würden zuhause gepflegt, und zwar mehrheitlich durch Frauen.
Becka warnte davor, bei der Krankenversicherung Menschen in Risikoklassen einzuordnen. Stattdessen sei es sinnvoll, Anreize für einen gesunden Lebensstil zu schaffen. Zudem müssten die Länder die Krankenhäuser wieder mehr als eine ihrer Aufgaben wahrnehmen. Sie kritisierte, dass in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen nur fünf Prozent der Kliniken in öffentlicher Trägerschaft seien. Einig waren sich alle, dass beispielsweise für alleinstehende alte Menschen zu wenig Hilfe beim Übergang von einem Krankenhausaufenthalt zur Kurzzeitpflege oder der Rückkehr ins Zuhause geboten werde. „In Würzburg gibt es eine Fachstelle für pflegende Angehörige. Dort sind die Fachleute, die Ihnen alle notwendigen Informationen liefern können. Nur ist dieses Angebot bislang zu wenig bekannt“, sagte Ministerin Gerlach.
Um dem Ärztemangel entgegenzuwirken, bilde Bayern derzeit so viele Mediziner aus wie kein anderes Bundesland. „Das heißt aber nicht, dass diese später auch alle in Bayern arbeiten werden“, erklärte Gerlach. Zusätzlich befürworte und unterstütze sie das Errichten von Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), in denen den Ärztinnen und Ärzten Verwaltungsaufgaben abgenommen und zugleich Flexibilität bei den Arbeitszeiten ermöglicht werde. Digitalisierung könne auch in der Pflege entlasten, wenn sie richtig eingesetzt werde. „Ich weiß von Pflegekräften, die im Patientenzimmer den Blutdruck erst handschriftlich notieren, um ihn später in den Computer einzugeben“, berichtete die Ministerin. Zudem warnte sie vor zu kleinlicher Auslegung von Vorschriften, beispielsweise was die Größe von Badezimmern in Pflegeheimen angeht. „Es kann doch nicht sein, dass eine ganze Station dichtmachen muss, weil das Bad ein paar Quadratzentimeter zu klein ist.“
mh (POW)
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